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Glücksspielsucht als eine typische Suchtform
Dr. Bert Kellermann
Nicht nur bestimmte Substanzen wie Heroin oder Alkohol können Suchtmittel sein, sondern auch bestimmte Tätigkeiten, Beispielsweise wurde im Deutschen Ärzteblatt vom 24.01.97 von einem der seltenen Fälle von Laufsucht berichtet: Ein Jogger lief so exzessiv, daß
seine Füße bis auf die Knochen durchgelaufen waren; trotzdem reduzierte
er sein Laufen nicht oder konnte es nicht. Zur Erklärung: Bei manchen Extremläufern kommt es im Zustand der totalen Erschöpfung zu einem euphorischen, mitunter sogar ekstatischen Zustand
(runners high), vermutlich verursacht durch die Ausschüttung von körpereigenen morphinähnlichen Substanzen in diesem Zustand.
Typisch für alle Suchtkranke sowohl Alkoholiker, Heroinabhängige, Nikotinsüchtige usw. ist:
- daß sie ihr Suchtmittel kaum mehr mit Genuß konsumieren , sondern
zwangsartig; sie glauben, sie müßten es unbedingt konsumieren
- daß sie den Konsum ihres Suchtmittels kaum mehr frei steuern,
mit ihrem Willen kontrollieren können
- daß sie ihr Suchtmittel als Flucht-Mittel bzw. Betäubungsmittel konsumieren
- im Spätstadium der Suchtkrankheit konsumiert der Suchtkranke sein Suchtmittel
trotz aller schon erlittenen und den eindeutig noch bevorstehenden
negativen Konsequenzen seines Suchtmittelkonsums immer weiter.
Alle wesentlichen Symptome einer Sucht sind auch bei der Glücksspielsucht vorhanden. Da es sich um eine typische Suchtform
handelt, ist es eindeutiger, von "Glücksspielsucht" statt von Pathologischem oder Exzessivem Glücksspielen zu sprechen.
Glücksspielsucht ist die häufigste nicht substanzgebundene Suchtform bzw. Tätigkeitssucht. Allerdings herrscht bei Laien die Auffassung vor,
es gäbe nur substanzgebundene Suchtformen. Da substanzungebundene Suchtformen
in Deutschland bis zum Anfang der 80er Jahre sehr selten waren,
waren sie nur Experten bekannt. Hinzukommt, daß die traditionsgemäß das Stoffliche, Materielle, Körperliche, Naturwissenschaftliche sehr stark betont wird. Aber
schon Ende des vorigen Jahrhunderts setzten die damaligen Experten
"Trunksucht" (Alkoholabhängigkeit), "Morphiumsucht" (entspricht der Heroinabhängigkeit unter den jungen Menschen unserer Zeit) und die "Spielsucht"
in einen engen Zusammenhang. Tatsächlich ist die Glücksspielsucht die drittälteste Suchtform in Europa.
Bei allen Suchtformen ist die jeweils als Suchtmittel verwendete
Substanz (zum Beispiel Alkohol) nur Mittel zum Zweck: Es geht
einem süchtig gewordenen Mensch eigentlich gar nicht um die Substanz,
sondern um die durch Konsum der jeweiligen Substanz erzeugte psychische
Wirkung. Und erfahrungsgemäß können nicht nur bestimmte Substanzen, sondern auch bestimmte Tätigkeiten (wie eben Glücksspielen) solche psychischen Wirkungen bei dem Konsumenten erzeugen.
Die psychische Wirkung des Glücksspielens soll der des Kokain ähneln.
Auch ist zu bedenken, daß die Unterschiede zwischen den einzelnen
Suchtformen oft stärker betont werden als die Gemeinsamkeiten, obwohl bei der Suchtkrankheit
die gemeinsamen Merkmale und das Wesen der Sucht bei allen Suchtformen
identisch sind. Es gibt nur eine Sucht (syn. Abhängigkeitssyndrom) als psychopathologisches Phänomen, nicht verschiedene Süchte. Zwar bestehen bei den einzelnen - substanzgebundenen und
nicht substanzgebundenen - Suchtformen suchtmittelspezifische
Unterschiede, jedoch sind die eigentlichen Merkmale/Symptome einer
Sucht bei allen Suchtformen gleich, wie ja auch die Angst identisch
ist bei den verschiedenen Phobieformen wie Spinnenphobie, Flugangst
oder Klaustrophobie, unabhängig vom jeweiligen Auslöser. Selbstverständlich gibt es erhebliche substanzspezifische Unterschiede zwischen
den einzelnen Suchtformen, beispielsweise zwischen einer Alkoholsucht
und einer Kokainabhängigkeit, die Sucht selbst ist aber die gleiche, auch bei einer
Glücksspielsucht.
Für den in der Suchtberatung und -therapie tätigen Psychiater, Psychologen oder anderen Experten, der über Erfahrungen aus der Praxis verfügt mit Alkoholikern, Medikamentenabhängigen, Kokainabhängigen, Heroinabhängigen und Polytoxikomanen einerseits und Glücksspielsüchtigen andererseits, ist es eindeutig, daß die Glücksspielsucht eine typische Suchtform ist. Das eigentliche Wesen
der Sucht, die psychische Abhängigkeit (süchtige Bindung an ein Suchtmittel) und das suchttypische Kontrollverlustphänomen lassen sich bei Glücksspielsüchtigen wesentlich klarer erkennen, weil hier die substanzspezifischen
toxischen berlagerungen fehlen.
Daß die typischen Symptome einer Sucht auch bei der Glücksspielsucht bestehen, ergibt sich ebenfalls beim Vergleich der
Beschreibungen von Substanzabhängigkeit bzw. Abhängigkeitssyndrom mit Pathologischem Glücksspielen in den international in Praxis und Wissenschaft anerkannten
psychiatrischen Diagnose-Manualen DSM-III-R und in der ICD-10:
Im DSM-III-R stimmen 8 der je 9 Merkmale der Substanzabhängigkeit und des Pathologischen Glücksspielens fast wörtlich überein. Zudem wird im DSM-III-R ausdrücklich betont: "Die Kriterien (nämlich für das Pathologische Glücksspielverhalten) wurden revidiert, um (...) die Entsprechung
zu wichtigen Merkmalen bei der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen herauszustellen." In den
"DSM-III-R-Falldarstellungen" heißt es: "Die wesentlichen Merkmale
dieser Störung gleichen denen der Abhängigkeit von einer psychoaktiven Substanz. In beiden Fällen hat die Person, die abhängig ist, nur eine eingeschränkte Kontrolle über das Verhalten und setzt es, trotz starker negativer Konsequenzen,
fort." In der wesentlich kürzeren ICD-10 wird zwar nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, die bereinstimmung ergibt sich jedoch
durch den Vergleich der Beschreibung des Abhängigkeitssyndroms und der des Pathologischen Glücksspielens: bis auf das Merkmal "Körperliche Abhängigkeit" stimmen alle Merkmale überein, so daß hier die Worte "Substanzkonsum" und "Glücksspielen" gegeneinander ausgetauscht werden können. Wenn die wesentlichen Symptome einer Störung mit denen einer anderen identisch sind, also die der Glücksspielsucht und die der Substanzabhängigkeit, handelt es sich um eine Krankheitseinheit ("nosologische
Entität").
Die größte Selbsthilfegemeinschaft der pathologischen Glücksspieler, die Anonymen Spieler/GA bekennt sich eindeutig zum
Suchtmodell. Im bisher führenden deutschen Psychiatrie-Lehrbuch (Tölle 1994) wird im Sucht-Kapitel auch die dort so genannte Glücksspielabhängigkeit abgehandelt. In einem führenden US-amerikanischen Sucht-Textbuch werden die "gambling
disorders" zu den "addictive disorders" gezählt. So ist es kein Zufall, daß sowohl in den USA als auch in
Westeuropa die Glücksspielertherapie meist in Alkoholiker-Einrichtungen stattfindet;
zumal das Umsteigen von einem Suchtmittel auf das andere nicht
selten ist. Der international anerkannteste Glückspielsucht-Experte, der Psychiater Custer verwandte den Terminus
"gambling addiction" und schrieb "compulsive gambling is an addictive
illness" und "The compulsive gamblers were using gambling the
way alcoholics used alcohol to escape from reality". Auch
die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren faßt das Pathologische
Glücksspielverhalten als Suchtform auf.
In der Glücksspiel-Monographie von Meyer und Bachmann wird u.a. dargestellt,
warum das Pathologische Glücksspiel als Suchtform aufzufassen ist.
Eine Suchtform muß nicht unbedingt ein schweres Krankheitsbild
darstellen. Beispielsweise können Nikotinsüchtige jahrzehnte- oder sogar lebenslang kaum gestört mit ihrer Sucht leben, weil die Folgeschäden einer Nikotinsucht fast nur im körperlichen, kaum im psychischen oder sozialen Bereich und erst
nach vielen Jahrzehnten auftreten.
Eine Glücksspielsucht i.S. von DSM-III-R/IV und ICD-10 ist jedoch meistens
ein schweres Krankheitsbild. Folgende Befunde weisen hin auf die
Schwere dieser Suchtform bzw. darauf, daß eine Glücksspielsucht eine gesundheitliche Beeinträchtigung von Krankheitswert darstellt:
Bei der umfangreichen Glücksspielerbefragung von Meyer gaben 54,6% der Spieler an, sich
durch ihre Glücksspielsucht psychisch sehr stark belastet gefühlt zu haben; weitere 27,5% hätten sich stark belastet gefühlt. 85,1% der Spieler gaben an, daß ihr Glücksspiel auch für ihre engsten Bezugspersonen eine ziemliche bis sehr starke Belastung
bedeutet habe. Als Folge des pathologischen Glücksspiels sei bei 30,6% die Partnerschaft auseinandergegangen;
in einer Stichprobe der Glücksspieler unserer Suchttherapiestation im Hamburger Allgemeinen
Krankenhaus Ochsenzoll waren es 58,3%. 23,2% hätten ihren Arbeitsplatz durch ihre Glücksspielsucht verloren (Ochsenzoll: 45,9%). 14,3% hätten wegen ihrer Mietschulden etc. ihre Wohnung aufgeben müssen (Ochsenzoll: 41,7%). 15,5% hätten Spielschulden von mehr als 50.000 DM (Ochsenzoll: 41,7%)
hätten höhere Spielschulden als sie innerhalb eines halben Jahres einnehmen
würden; die Unterschiede lassen sich dadurch erklären, daß die Ochsenzoller Stichprobe aus Glücksspielern in psychiatrisch-stationärer Therapie besteht, die naturgemäß stärkere psychische und soziale Folgeprobleme haben. Es dürfte leicht nachzuvollziehen sein, welche psychischen Auswirkungen
für die Betroffenen (und ihre Angehörigen) diese ihre sozialen Folgeschäden haben.
Vor allem die Suizidalität der süchtigen Glücksspieler kann als ein Indikator für die Schwere dieser Suchtform und ihren Krankheitswert angesehen
werden: Ein relativ hoher Anteil der süchtigen Glücksspieler, die hilfesuchend in die ambulanten oder stationären psychosozialen Institutionen kommen, ist zu diesem Zeitpunkt
suizidal. In der Ochsenzoller Untersuchung bejahten 58,3% der
befragten Glücksspieler die Aussage: "Ich habe wegen meines Spielens Selbstmordgedanken
gehabt." In einer Stichprobe der Glücksspieler des Therapiezentrums Münzesheim waren es 71,4%, die wegen ihres pathologischen Glücksspielens und ihrer dadurch als aussichtslos empfundenen Situation
bereits Suizidversuche unternommen oder sehr konkrete Suizidgedanken
und Suizidplanungen gehabt hatten. Meyer fand, daß 67,7% der glücksspielsüchtigen Probanden Suizidgedanken hatten, 14,9% hatten bereits
einen Suizidversuch unternommen. In einer Untersuchung aus der
Bernhard-Salzmann-Klinik in Gütersloh ergab sich, daß 32% der Glücksspieler bereits zumindest einen Suizidversuch unternommen hatten.
In der
ffentlichkeit herrschende Vorurteile gegenüber glücksspielsüchtig und von anderen Suchtmitteln abhängig gewordenen Menschen sind oft recht hartnäckig. Ein Beispiel dafür ist die Alkoholabhängigkeit, die bereits 1968 höchstrichterlich als Krankheit definiert wurde und dennoch in der
ffentlichkeit immer noch verbreitet als moralisches Versagen
aufgefaßt wird. Der den süchtig gewordenen Menschen beherrschende innere Zwang zum Konsum
seines Suchtmittels, das er gegen jede vernünftige Erwägung und trotz aller schon erlittenen und/oder der eindeutig drohenden
negativen Konsequenzen weiterhin konsumieren muß, ist erfahrungsgemäß für den Menschen, der nicht selbst betroffen ist, nur sehr beschränkt einfühlbar. So tendiert der Laie dazu, süchtiges Glücksspielen und anderes süchtiges Verhalten als amoralisch und vorwerfbar, als frei gewählten lasterhaften Lebensstil, den der Betroffene einfach aufgeben
solle (was der Laie - von sich auf den Betroffenen schließend
- für leicht hält), aufzufassen.
Für einen süchtig gewordenen Glücksspieler war das Glücksspielen nur anfangs ein "freigewählter Lebensstil". Dieser Lebensstil wird eigenartigerweise von
staatlicher Seite her sogar noch gefördert: Obwohl die vor allem in den zahlreichen Spielhallen aufgestellten
Geldspielautomaten eindeutig Glücksspiele i.S. von § 284 StGB darstellen, wurden sie aus - kurzsichtigen
- wirtschafts- und finanzpolitischen Gründen umdefiniert zu "Unterhaltungsautomaten". Aus gleichen Gründen und trotz der schon im vorigen Jahrhundert gewonnenen Erfahrungen
werden immer mehr Spielcasinos und Automaten-Dependencen zugelassen:
Bekanntlich planen mehrere Bundesländer die Einrichtung weiterer Spielcasinos und Automatendependencen,
wegen der (scheinbaren) Einnahmen für die Staatskassen. In den früheren Ostblockstaaten waren bis zur "Wende" Spielcasinos verboten,
jetzt werden immer mehr eingerichtet.
Interessierte Kreise verbreiten die Auffassung, der freie Bürger müsse selbst bestimmen können, welche Lebensgenüsse (bzw. potentiellen Suchtmittel) er konsumiere. Wer durch Konsum
von potentiellen Suchtmitteln wie Glücksspielen süchtig werde, sei eben von vornherein abnorm. Wenn sich - bei einem
mehr oder minder großen Anteil der Konsumenten des jeweiligen
Suchtmittels - eine Sucht entwickelt hat, ist der weitere Suchtmittelkonsum
trotz negativer Folgen zwangsartig, tatsächlich unfrei bzw. pathologisch. Es ist ganz einfach eine immer
wieder bestätigte Erfahrungstatsache, daß ein nicht geringer Teil der "freien,
mündigen Bürger" durch Konsum von Suchtmitteln in eine Suchtmittel-Abhängigkeit gerät; man weiß noch kaum, wer primär erhöht gefährdet ist und wer weniger. Suchtmittel sind dadurch gekennzeichnet,
daß bei ihnen die Konsumkontrolle verloren gehen und praktisch
jeder Mensch von ihnen abhängig werden kann, mit entsprechenden Konsequenzen für sich und andere.
Aus diesen Gründen müssen zur Schadensminderung ("harm reduction") Suchtmittel in ihrer
Verfügbarkeit - soweit realisierbar - möglichst weitgehend eingeschränkt und kontrolliert werden, besonders die mit hohem Sucht- und/oder
Schadens-Potential. Die Casino- und die Spielhallen-Glücksspiele wie Roulette und die Glücksspielautomaten sind das "Heroin" unter den Glücksspielen; sie haben ein höheres Suchtpotential und ein höhers Schadenspotential als bspw. Cannabis. (Bei Alkohol und z.Z.
bei den illegalisierten Drogen ist eine Verfügbarkeits-Einschränkung wegen der "liberalen" Wirtschaftspolitik nur begrenzt möglich. Doch war früher, bei anderen Marktverhältnissen, eine wirksame Kontrolle z.B. durch Prohibition bzw.
durch das BtMG möglich; auch gibt es durchaus wirksame Instrumente zur Einschränkung der Alkoholverfügbarkeit, die allerdings in Deutschland leider kaum genutzt werden,
aus wirtschaftspolitischen Gründen und wegen des Lobbyismus).
Die Erfahrungen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts haben gezeigt, daß eine sehr wirksame
Prävention durch radikale Verfügbarkeitseinschränkung der Glücksspiele mit hohem Sucht- und Schadenspotential möglich ist und daß auf diese Weise vermieden werden kann, daß Bürger in eine Glücksspielsucht geraten und dadurch u.a. kriminell werden.
Glücksspielsucht ist eine typische Suchtform
Nicht nur bestimmte Substanzen wie Heroin oder Alkohol können Suchtmittel sein, sondern auch bestimmte Tätigkeiten. Beispielsweise wurde im Deutschen Ärzteblatt vom 24.01.97 von einem der seltenen Fälle von Laufsucht berichtet: Ein Jogger lief so exzessiv, daß
seine Füße bis auf die Knochen durchgelaufen waren; trotzdem reduzierte
er sein Laufen nicht oder konnte es nicht. Zur Erklärung: Bei manchen Extremläufern kommt es im Zustand der totalen Erschöpfung zu einem euphorischen, mitunter sogar ekstatischen Zustand
(runners high), vermutlich verursacht durch die Ausschüttung von körpereigenen morphinähnlichen Substanzen in diesem Zustand.
Typisch für alle Suchtkranke - sowohl Alkoholiker, Heroinabhängige, Nikotinsüchtige usw. - ist:
- daß sie ihr Suchtmittel kaum mehr mit Genuß konsumieren , sondern
zwangsartig; sie glauben, sie müßten es unbedingt konsumieren
- daß sie den Konsum ihres Suchtmittels kaum mehr frei steuern,
kaum mehr mit ihrem Willen kontrollieren können ("Kontrollverlust-Phänomen")
- daß sie ihr Suchtmittel als Flucht-Mittel bzw. Betäubungsmittel konsumieren
- im Spätstadium der Suchtkrankheit konsumiert der Suchtkranke sein Suchtmittel
immer weiter trotz aller schon erlittenen und den eindeutig
noch bevorstehenden negativen Konsequenzen seines Suchtmittelkonsums.
Alle wesentlichen und typischen Symptome einer Sucht sind auch
bei der Glücksspielsucht vorhanden. Da es sich um eine typische Suchtform
handelt, ist es eindeutiger und exakter, von "Glücksspielsucht" statt von Pathologischem oder Exzessivem Glücksspielen zu sprechen.
Glücksspielsucht ist die häufigste nicht substanzgebundene Suchtform bzw. Tätigkeitssucht. Allerdings herrscht bei Laien die Auffassung vor,
es gäbe nur substanzgebundene Suchtformen. Da substanzungebundene Suchtformen
in Deutschland bis zum Anfang der 80er Jahre sehr selten waren,
waren sie nur Experten bekannt. Hinzukommt, daß die traditionsgemäß das Stoffliche, Materielle, Körperliche, Naturwissenschaftliche sehr stark betont wird, paradoxerweise
auch in der Psychiatrie. Aber schon Ende des vorigen Jahrhunderts
setzten die damaligen Experten "Trunksucht" (Alkoholabhängigkeit), "Morphiumsucht" (entspricht der Heroinabhängigkeit unter den jungen Menschen unserer Zeit) und die "Spielsucht"
in einen engen Zusammenhang. Tatsächlich ist die Glücksspielsucht die drittälteste Suchtform in Europa.
Bei ist allen Suchtformen ist die jeweils als Suchtmittel verwendete
Substanz (zum Beispiel Alkohol) oder Tätigkeit nur Mittel zum Zweck: Es geht einem süchtig gewordenen Mensch (bspw. Einem Alkoholiker) eigentlich gar
nicht um die Substanz (um den Alkohol) , sondern um die durch
den Konsum der jeweiligen Substanz (Alkohol) erzeugte psychische
Wirkung. Und erfahrungsgemäß können nicht nur bestimmte Substanzen, sondern auch bestimmte Tätigkeiten (wie eben Glücksspielen) psychische Wirkungen bei dem Konsumenten erzeugen.
Die psychische Wirkung des Glücksspielens soll der des Kokain ähneln.
Auch ist zu bedenken, daß die Unterschiede zwischen den einzelnen
Suchtformen oft stärker betont werden als die Gemeinsamkeiten, obwohl bei allen Formen
der Suchtkrankheit die gemeinsamen Merkmale und das Wesen der
Sucht identisch sind. Es gibt nur eine Sucht (syn. Abhängigkeitssyndrom) als psychopathologisches Phänomen, nicht verschiedene Süchte. Zwar bestehen bei den einzelnen - substanzgebundenen und
nicht substanzgebundenen - Suchtformen suchtmittelspezifische
Unterschiede, jedoch sind die eigentlichen Merkmale/Symptome einer
Sucht bei allen Suchtformen gleich, wie ja auch die Angst identisch
ist bei den verschiedenen Phobieformen wie Spinnenphobie, Flugangst
oder Klaustrophobie, unabhängig vom jeweiligen Auslöser. Selbstverständlich gibt es erhebliche substanzspezifische Unterschiede zwischen
den einzelnen Suchtformen, beispielsweise zwischen einer Alkoholsucht
und einer Kokainabhängigkeit, die Sucht selbst ist aber die gleiche, auch bei einer
Glücksspielsucht.
Für den in der Suchtberatung und -therapie tätigen Psychiater, Psychologen oder anderen Experten, der über Erfahrungen aus der Praxis verfügt mit Alkoholikern, Medikamentenabhängigen, Kokainabhängigen, Heroinabhängigen und Polytoxikomanen einerseits und Glücksspielsüchtigen andererseits, ist es eindeutig, daß die Glücksspielsucht eine typische Suchtform ist. Das eigentliche Wesen
der Sucht, die psychische Abhängigkeit (süchtige Bindung an ein Suchtmittel) und das suchttypische Kontrollverlustphänomen lassen sich bei Glücksspielsüchtigen wesentlich klarer erkennen, weil hier die substanzspezifischen
toxischen berlagerungen fehlen.
Daß die typischen Symptome einer Sucht auch bei der Glücksspielsucht bestehen, ergibt sich ebenfalls beim Vergleich der
Beschreibungen von Substanzabhängigkeit bzw. Abhängigkeitssyndrom mit Pathologischem Glücksspielen in den international in Praxis und Wissenschaft anerkannten
psychiatrischen Diagnose-Manualen DSM-III-R und in der ICD-10:
Im DSM-III-R stimmen 8 der je 9 Merkmale der Substanzabhängigkeit und des Pathologischen Glücksspielens fast wörtlich überein. Zudem wird im DSM-III-R ausdrücklich betont: "Die Kriterien (nämlich für das Pathologische Glücksspielverhalten) wurden revidiert, um (...) die Entsprechung
zu wichtigen Merkmalen bei der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen herauszustellen." In den
"DSM-III-R-Falldarstellungen" heißt es: "Die wesentlichen Merkmale
dieser Störung gleichen denen der Abhängigkeit von einer psychoaktiven Substanz. In beiden Fällen hat die Person, die abhängig ist, nur eine eingeschränkte Kontrolle über das Verhalten und setzt es, trotz starker negativer Konsequenzen,
fort." In der wesentlich kürzeren ICD-10 wird zwar nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, die bereinstimmung ergibt sich jedoch
durch den Vergleich der Beschreibung des Abhängigkeitssyndroms und der des Pathologischen Glücksspielens: bis auf das Merkmal "Körperliche Abhängigkeit" stimmen alle Merkmale überein, so daß hier die Worte "Substanzkonsum" und "Glücksspielen" gegeneinander ausgetauscht werden können. Wenn die wesentlichen Symptome einer Störung mit denen einer anderen identisch sind, also die der Glücksspielsucht und die der Substanzabhängigkeit, handelt es sich um eine Krankheitseinheit ("nosologische
Entität").
Die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren benutzt (neben
dem Begriff Pathologisches Glücksspiel) den Terminus Glücksspielsucht, bspw. in einer vor wenigen Wochen erschienenen
Informationsschrift. Die größte Selbsthilfegemeinschaft der pathologischen Glücksspieler, die Anonymen Spieler/GA bekennt sich eindeutig zum
Suchtmodell. Im bisher führenden deutschen Psychiatrie-Lehrbuch (Tölle 1994) wird im Sucht-Kapitel auch die dort so genannte Glücksspielabhängigkeit abgehandelt. In dem erst vor einem Jahr erschienenen
und bereits sehr verbreiteten Psychiatrie-Lehrbuch von Möller heißt es im Sucht-Kapitel: "Demgegenüber kommt den sogenannten nichtstoffgebundenen Abhängigkeiten wie dem Glücksspiel bzw. der Spielsucht eine wachsende Bedeutung zu. Letztere
breitet sich schleichend und unspektakulär in unserer Gesellschaft aus und birgt ein gravierendes Zerstörungspotential in sich." In einem führenden US-amerikanischen Sucht-Textbuch werden die "gambling
disorders" zu den "addictive disorders" gezählt. So ist es kein Zufall, daß sowohl in den USA als auch in
Westeuropa die Glücksspielertherapie meist in Alkoholiker-Einrichtungen stattfindet;
zumal das Umsteigen von einem Suchtmittel auf das andere nicht
selten ist. Der international anerkannteste Glückspielsucht-Experte, der Psychiater Custer verwandte den Terminus
"gambling addiction" und schrieb "compulsive gambling is an addictive
illness" und "The compulsive gamblers were using gambling the
way alcoholics used alcohol to escape from reality". Auch
die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren faßt das Pathologische
Glücksspielverhalten als Suchtform auf.
In der Glücksspiel-Monographie von Meyer und Bachmann wird u.a. dargestellt,
warum das Pathologische Glücksspiel als Suchtform aufzufassen ist.
Glücksspielsucht als psychische Störung von Krankheitswert
Eine Suchtform muß nicht unbedingt ein schweres Krankheitsbild
darstellen. Beispielsweise können Nikotinsüchtige jahrzehnte- oder sogar lebenslang kaum gestört mit ihrer Sucht leben, weil die Folgeschäden einer Nikotinsucht fast nur im körperlichen, kaum im psychischen oder sozialen Bereich und erst
nach vielen Jahrzehnten auftreten.
Eine Glücksspielsucht i.S. von DSM-III-R/IV und ICD-10 ist jedoch meistens
ein schweres Krankheitsbild. Folgende Befunde weisen hin auf die
Schwere dieser Suchtform bzw. darauf, daß eine Glücksspielsucht eine gesundheitliche Beeinträchtigung von Krankheitswert darstellt:
Bei der umfangreichen Glücksspielerbefragung von Meyer gaben 54,6% der Spieler an, sich
durch ihre Glücksspielsucht psychisch sehr stark belastet gefühlt zu haben; weitere 27,5% hätten sich stark belastet gefühlt. 85,1% der Spieler gaben an, daß ihr Glücksspiel auch für ihre engsten Bezugspersonen eine ziemliche bis sehr starke Belastung
bedeutet habe. Als Folge des pathologischen Glücksspiels sei bei 30,6% die Partnerschaft auseinandergegangen;
in einer Stichprobe der Glücksspieler unserer Suchttherapiestation im Hamburger Allgemeinen
Krankenhaus Ochsenzoll waren es 58,3%. 23,2% hätten ihren Arbeitsplatz durch ihre Glücksspielsucht verloren (Ochsenzoll: 45,9%). 14,3% hätten wegen ihrer Mietschulden etc. ihre Wohnung aufgeben müssen (Ochsenzoll: 41,7%). 15,5% hätten Spielschulden von mehr als 50.000 DM (Ochsenzoll: 41,7% hätten höhere Spielschulden als sie innerhalb eines halben Jahres einnehmen
würden; die Unterschiede lassen sich dadurch erklären, daß die Ochsenzoller Stichprobe aus Glücksspielern in psychiatrisch-stationärer Therapie besteht, die naturgemäß stärkere psychische und soziale Folgeprobleme haben. Es dürfte leicht nachzuvollziehen sein, welche psychischen Auswirkungen
für die Betroffenen (und ihre Angehörigen) diese ihre sozialen Folgeschäden haben.
Vor allem die Suizidalität der süchtigen Glücksspieler kann als ein Indikator für die Schwere dieser Suchtform und ihren Krankheitswert angesehen
werden: Ein relativ hoher Anteil der süchtigen Glücksspieler, die hilfesuchend in die ambulanten oder stationären psychosozialen Institutionen kommen, ist zu diesem Zeitpunkt
suizidal. In der Ochsenzoller Untersuchung bejahten 58,3% der
befragten Glücksspieler die Aussage: "Ich habe wegen meines Spielens Selbstmordgedanken
gehabt." In einer Stichprobe der Glücksspieler des Therapiezentrums Münzesheim waren es 71,4%, die wegen ihres pathologischen Glücksspielens und ihrer dadurch als aussichtslos empfundenen Situation
bereits Suizidversuche unternommen oder sehr konkrete Suizidgedanken
und Suizidplanungen gehabt hatten. Meyer fand, daß 67,7% der glücksspielsüchtigen Probanden Suizidgedanken hatten, 14,9% hatten bereits
einen Suizidversuch unternommen. In einer Untersuchung aus der
Bernhard-Salzmann-Klinik in Gütersloh ergab sich, daß 32% der Glücksspieler bereits zumindest einen Suizidversuch unternommen hatten.
In der
ffentlichkeit herrschende Vorurteile gegenüber glücksspielsüchtig und von anderen Suchtmitteln abhängig gewordenen Menschen sind oft recht hartnäckig. Ein Beispiel dafür ist die Alkoholabhängigkeit, die bereits 1968 höchstrichterlich als Krankheit definiert wurde und dennoch in der
ffentlichkeit immer noch verbreitet als moralisches Versagen
aufgefaßt wird. Der den süchtig gewordenen Menschen beherrschende innere Zwang zum Konsum
seines Suchtmittels, das er gegen jede vernünftige Erwägung und trotz aller schon erlittenen und/oder der eindeutig drohenden
negativen Konsequenzen weiterhin konsumieren muß, ist erfahrungsgemäß für den Menschen, der nicht selbst betroffen ist, nur sehr beschränkt einfühlbar. So tendiert der Laie dazu, süchtiges Glücksspielen und anderes süchtiges Verhalten als amoralisch und vorwerfbar, als frei gewählten lasterhaften Lebensstil, den der Betroffene einfach aufgeben
solle (was der Laie - von sich auf den Betroffenen schließend
- für leicht hält), aufzufassen.
Für einen süchtig gewordenen Glücksspieler war das Glücksspielen nur anfangs ein "freigewählter Lebensstil". Dieser Lebensstil wird eigenartigerweise von
staatlicher Seite her sogar noch gefördert: Obwohl die vor allem in den zahlreichen Spielhallen aufgestellten
Geldspielautomaten eindeutig Glücksspiele i.S. von § 284 StGB darstellen, wurden sie aus - kurzsichtigen
- wirtschafts- und finanzpolitischen Gründen umdefiniert zu "Unterhaltungsautomaten". Aus gleichen Gründen und trotz der schon im vorigen Jahrhundert gewonnenen Erfahrungen
werden immer mehr Spielcasinos und Automaten-Dependencen zugelassen:
Bekanntlich planen mehrere Bundesländer die Einrichtung weiterer Spielcasinos und Automatendependencen,
wegen der (scheinbaren) Einnahmen für die Staatskassen. In den früheren Ostblockstaaten waren bis zur "Wende" Spielcasinos verboten,
jetzt werden immer mehr eingerichtet.
Interessierte Kreise verbreiten die Auffassung, der freie Bürger müsse selbst bestimmen können, welche Lebensgenüsse (bzw. potentiellen Suchtmittel) er konsumiere. Wer durch Konsum
von potentiellen Suchtmitteln wie Glücksspielen süchtig werde, sei eben von vornherein abnorm. Wenn sich - bei einem
mehr oder minder großen Anteil der Konsumenten des jeweiligen
Suchtmittels - eine Sucht entwickelt hat, ist der weitere Suchtmittelkonsum
trotz negativer Folgen zwangsartig, tatsächlich unfrei bzw. pathologisch. Es ist ganz einfach eine immer
wieder bestätigte Erfahrungstatsache, daß ein nicht geringer Teil der "freien,
mündigen Bürger" durch Konsum von Suchtmitteln in eine Suchtmittel-Abhängigkeit gerät; man weiß noch kaum, wer primär erhöht gefährdet ist und wer weniger. Suchtmittel sind dadurch gekennzeichnet,
daß bei ihnen die Konsumkontrolle verloren gehen und praktisch
jeder Mensch von ihnen abhängig werden kann, mit entsprechenden Konsequenzen für sich und andere.
Aus diesen Gründen müssen zur Schadensminderung ("harm reduction") Suchtmittel mit
nicht geringem Sucht- und/oder Schadens-Potential in ihrer Verfügbarkeit - soweit realisierbar - möglichst weitgehend eingeschränkt und kontrolliert werden, besonders die mit hohem Sucht- und/oder
Schadens-Potential. Die Casino- und die Spielhallen-Glücksspiele wie Roulette und die Glücksspielautomaten sind das "Heroin" unter den Glücksspielen; sie haben ein höheres Suchtpotential und ein höheres Schadenspotential als bspw. Cannabis. (Bei Alkohol und z.
Z. bei den illegalisierten Drogen ist eine Verfügbarkeits-Einschränkung wegen der "liberalen" Wirtschaftspolitik nur begrenzt möglich. Doch war früher, bei anderen Marktverhältnissen, eine wirksame Kontrolle z.B. durch Prohibition bzw.
durch das BtMG möglich; auch gibt es durchaus wirksame Instrumente zur Einschränkung der Alkoholverfügbarkeit, die allerdings in Deutschland leider kaum genutzt werden,
aus wirtschaftspolitischen Gründen und wegen des Lobbyismus).
Die Erfahrungen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts haben gezeigt, daß eine sehr wirksame
Prävention durch radikale Verfügbarkeitseinschränkung der Glücksspiele mit hohem Sucht- und Schadenspotential möglich ist und daß auf diese Weise vermieden werden kann, daß Bürger in eine Glücksspielsucht geraten und dadurch u.a. kriminell werden.
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